Schon einige Jahre lang wurde jeden Freitag im Mittagsgebet in St. Marien die Versöhnungslitanei von Coventry gebetet. Im Herbst 2018 ist die Evangelisch-Lutherische Innenstadtgemeinde in den Kreis der Nagelkreuz-Zentren aufgenommen worden. Das Nagelkreuz wurde in der Versöhnungskapelle (im südöstlichen Chorumgang) der Marienkirche aufgestellt.
Zur Geschichte der Nagelkreuz-Bewegung
Angriff auf Coventry
Am 14. November 1940 flog die deutsche Luftwaffe unter dem Decknamen „Unternehmen Mondscheinsonate“ einen schweren Luftangriff auf die mittelenglische Stadt Coventry. Mit über 550 Toten war es der Angriff, der die meisten Todesopfer aller deutschen Luftangriffe in England forderte. Darüber hinaus wurden große Teile der Innenstadt, 4330 Häuser und unersetzliche Kulturgüter dem Erdboden gleichgemacht. Aufgrund des hohen Zerstörungsgrades erfand der nationalsozialistische Propagandaminister Joseph Goebbels den Begriff „coventrieren“ für die Vernichtung einer Stadt aus der Luft.Auch die im 14. Jahrhundert erbaute Kathedrale der Stadt war in Flammen aufgegangen, nur die Außenmauern standen noch. Am Morgen nach der Zerstörung fand der Steinmetz Jock Forbes in der Ruine zwei verkohlte mittelalterliche Dachbalken, die in Form eines Kreuzes aufeinander gefallen waren. Er band sie zusammen und stellte sie in der Ruine auf.
Vater vergib
Noch an dem Tag nach dem Brand wurde es Dompropst Richard Howard klar, dass die Kathedrale wieder aufgebaut werden müsse (auch wenn es noch bis 1962 dauern sollte). Einige Zeit nach der Zerstörung ließ er mit einem verkohlten Stück Holz den Anfang des ersten Kreuzeswortes Jesu auf die Wand hinter dem Ruinenaltar schreiben: „Vater, vergib“. Bewusst verzichtete er dabei auf die Fortsetzung des Verses (Lukas 23, 34) – „Vater, vergib ihnen“. Nicht nur der Feind, sondern „wir alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten“, hatte bereits Paulus geschrieben (Römer 3, 23) und im Epheserbrief wurde gemahnt: „Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus“ (Epheser 4, 32). 1959 entstand aus diesen Worten das Versöhnungsgebet von Coventry, das bis heute jeden Freitag in der Ruine der Kathedrale und an zahlreichen Orten weltweit gebetet wird.
Nagelkreuz
Für Richard Howard bedeuteten die Worte „Vater, vergib“ die Verpflichtung, dem Feind die Hand zu reichen. Nicht Bitterkeit, Hass oder der Wunsch nach Vergeltung sollten die Zukunft prägen, sondern die Hoffnung auf Versöhnung, Vergebung und Frieden. Bereits am Weihnachtstag 1940 hatte er in einer landesweiten Rundfunkübertragung aus der Ruine der Kathedrale dazu aufgerufen, keine Rache zu üben, sondern nach dem Ende des Kriegs gemeinsam mit dem Feind an einer freundlicheren, dem Christuskind ähnlicher werdenden Welt zu arbeiten. Als Zeichen dieser Verpflichtung und Verheißung formte Pfarrer Arthur Wales aus drei Zimmermannsnägeln aus den Dachbalken der verbrannten mittelalterlichen Kathedrale ein „Nagel-Kreuz“.
Nagelkreuzgemeinschaft
Nach dem Ende des Krieges begann Dompropst Howard diese Verpflichtung des Weihnachtstages 1940 umzusetzen. Dies führte zu einer ersten Städtepartnerschaft Coventrys mit Kiel und 1959 zu einer weiteren mit Dresden. Als Symbol wachsenden Vertrauens und gemeinsamer Verantwortung für den Frieden wurden diesen Orten ein Nagelkreuz aus Coventry überreicht. Später wurde das Nagelkreuz auch nach Berlin, Münster, Ottobeuren und viele andere im Krieg zerstörte Städte gebracht. Im Laufe der Zeit kamen Orte in anderen Ländern und neuen Krisengebieten, unabhängig vom Zweiten Weltkrieg, hinzu. So entwickelte sich ein internationales Netzwerk für Frieden und Versöhnung, das seit 1974 den Namen Nagelkreuzgemeinschaft trägt.
Zum Jahrestag der schrecklichen Attentate in Hanau am 19. Februar 2020 erinnern verschiedene Nagelkreuzzentren an die wertvolle Versöhnungsarbeit, die vom Nagelkreuz ausgeht. In diesem Video berichten die einzelnen Zentren deshalb von ihrer eigenen Arbeit vor Ort, die das Miteinander versöhnlicher zu gestalten versucht.
Die beteiligten Nagelkreuzzentren sind:
Kapelle der Versöhnung in Berlin
Anhaltinische Diakonissenanstalt in Dessau
Ev. Kirche in Esslingen
Wallonisch-Niederländische Kirche in Hanau
St. Nicolai in Lemgo
St. Barbara in München
Garnisonskirche Potsdam
Ökumenische Nagelkreuzinitiative in Würzburg
Gemarker Kirche in Wuppertal
Außerdem stellt der Vorsitzende der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland, Herr OKR Dr. Oliver Schuegraf, die Geschichte und Schwerpunkte vor.
© Coventry Cathedral
Die Versöhnungslitanei von Coventry
Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.
(Römer 3, 23)
Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse,
Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist,
Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet,
Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen,
Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge,
Vater, vergib.
Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht,
Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott,
Vater, vergib.
Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.
(Epheser 4, 32)